Welche Folgen der Erziehermangel mit sich bringt – und wie Kommunen darauf reagieren können
Reduzierung der Betreuungszeiten, Schließung von Gruppen – die Situation in den Kindertagesstätten erscheint momentan dramatisch, insbesondere für berufstätige Eltern. Wir haben uns mit Susanne Sargk, freiberufliche Mentorin für Kindertagesstätten und leitet das Landesreferat für Kindertageseinrichtungen beim VBE (Verband Bildung und Erziehung) Baden-Württemberg, unterhalten, wo die Ursachen liegen und wie Kommunen auf die aktuelle Situation reagieren können.
von Holger Hagenlocher, Redaktionsbüro Hagenlocher – 1
Frau Sargk, ist der Fachkräftemangel alleine ursächlich für die Situation in den kommunalen Kindertageseinrichtungen?
Fachkräftemangel ist sicherlich ein zentraler Faktor, der die aktuellen Herausforderungen in den kommunalen Kindertageseinrichtungen erheblich verschärft. Allerdings ist er nicht der einzige Grund. Die Situation ist das Ergebnis mehrerer miteinander verwobener Ursachen. Zum einen haben wir einen kontinuierlich steigenden Betreuungsbedarf, vor allem durch den Anspruch auf frühkindliche Bildung und den Ausbau der Betreuungsangebote, der nicht mit einem entsprechenden Anstieg an qualifizierten Fachkräften einhergeht.
Zum anderen wirken strukturelle Rahmenbedingungen wie unzureichende Bezahlung, hohe Arbeitsbelastung und schwierige Arbeitsbedingungen auf die Attraktivität des Berufsfeldes. Hinzu kommt die demografische Entwicklung, durch die viele erfahrene Erzieherinnen und Erzieher in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen werden, während gleichzeitig zu wenige junge Fachkräfte nachrücken.
Kurz gesagt: Der Fachkräftemangel ist zwar ein entscheidendes Problem, doch er allein erklärt nicht die Misere. Es ist ein Zusammenspiel von steigenden Anforderungen, strukturellen Defiziten und fehlenden politischen Maßnahmen, das zu dieser angespannten Lage führt.
Wie können die Kommunen darauf reagieren, wenn aufgrund der geschilderten Probleme bestehende Strukturen ins Wanken geraten oder nicht mehr aufrechterhalten werden können?
Kommunen stehen vor einer großen Herausforderung, wenn bestehende Strukturen in der Kinderbetreuung ins Wanken geraten. Es gibt jedoch verschiedene Ansätze, wie sie darauf reagieren können, um die Situation zumindest abzumildern.
Die Kommunen können auf die Herausforderungen in den Kitas kurzfristig mit flexiblen Betreuungsmodellen, Kooperationen mit freien Trägern und der Rekrutierung von Quereinsteigern reagieren. Mittelfristig wäre es wichtig, die Attraktivität des Erzieherberufs durch bessere Arbeitsbedingungen und gezielte Anreize wie flexiblere Arbeitszeitmodelle zu steigern. Eine 4-Tage-Woche könnte dabei durchaus ein Ansatz sein, um Erzieherinnen zu entlasten und die Arbeitszufriedenheit zu erhöhen. Langfristig sind jedoch Maßnahmen wie der Ausbau von Ausbildungsplätzen und eine nachhaltige Personalplanung erforderlich, um die Probleme dauerhaft zu bewältigen.
Die Einrichtungen müssen daran arbeiten, dass Erzieherinnen und Erzieher das volle Potenzial entfalten können sowie Spaß und Freude am Beruf wiederfinden. Dazu ist es notwendig, eine Umgebung zu schaffen, die Kinder bestmöglich unterstützt und fördert.
Es benötigt eine ganze Liste an Maßnahmen, wie die Stärkung und Ausgestaltung des Teamarbeit, die Zusammenarbeit und aktive Kommunikation mit den Eltern, das Einleiten von Veränderungsprozessen, das Coaching des Führungspersonals, das Onboarding von qualifiziertem Fachpersonal.
Wenn sich nicht-öffentliche Träger, wie Kirchen oder private Anbieter, aus der Trägerschaft von Kitas zurückziehen, muss die Kommune einspringen. Was ist dann zu tun?
Wenn sich nicht-öffentliche Träger aus der Trägerschaft von Kitas zurückziehen, stehen die Kommunen vor der großen Aufgabe, die Betreuungslücke zu schließen und einen guten und vertrauensvollen Übergang zu gestalten. Die Kommune muss kurzfristig die Verantwortung für die betroffenen Einrichtungen übernehmen, um den Betrieb aufrechtzuerhalten und den Eltern Planungssicherheit zu geben. Die Kommune muss Ressourcen mobilisieren. Dabei gilt es, zusätzliche finanzielle und personelle Ressourcen zu aktivieren. Dies könnte durch die Umschichtung von Mitteln oder durch die Zusammenarbeit mit anderen Trägern erfolgen. Langfristig muss die Kommune eine strategische Entscheidung treffen, ob sie die Einrichtung dauerhaft selbst betreibt oder neue Träger sucht. Parallel dazu sollte sie eine nachhaltige Personal- und Finanzplanung aufsetzen, um Engpässe zu vermeiden. Eine enge Kommunikation mit Eltern und Mitarbeitenden ist dabei essenziell, um Unsicherheiten zu minimieren. Kommunen sind in der Zeit des Übergangs stark gefordert, denn sie haben mehrere Rollen gleichzeitig zu spielen und habe selten das „fachliche und personelle Handwerkszeug“ um den unterschiedlichen Problemen begegnen zu können.
Leider werden auch immer wieder Erzieherinnen und Erzieher oder auch Eltern aufgrund der Schließungen angefeindet. Das Vertrauen ist zerstört und ein konstruktiver Dialog ist aufgrund vieler Emotionen nicht mehr möglich.
Auf Ihrer Website schreiben Sie, dass Einrichtungen bei Problemen externe Unterstützung in Anspruch nehmen sollten …
Ja, externe Unterstützung kann in Krisensituationen, wie Personalengpässen oder strukturellen Veränderungen, entscheidend sein. Fachliche Beratung bietet den Vorteil, dass Expertinnen und Experten von außen neue Perspektiven einbringen und maßgeschneiderte Lösungsansätze entwickeln können. Dazu zählen unter anderem die Organisationsberatung zur Unterstützung bei der Optimierung von Arbeitsabläufen oder Dienstplangestaltung, um vorhandene Ressourcen besser zu nutzen. Eine Personalberatung kann Hilfe bei der Rekrutierung von Fachkräften, etwa durch gezielte Kampagnen oder die Einbindung von Quereinsteigern bringen. Durch Qualitätsmanagement kann Beratung zur Sicherung der pädagogischen Qualität trotz der schwierigen Umstände helfen. Externe Fachkräfte können zudem als Moderatoren bei Konflikten oder Veränderungsprozessen fungieren und den Übergang in eine stabilere Phase begleiten. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wertvolle Chancen im Arbeitsalltag mit hohen Belastungen unentdeckt bleiben und nicht genutzt werden. Es liegt auf der Hand, dass für die konstruktive Weiterentwicklung von pädagogischen Schwerpunkten und Organisationsstrukturen sowie die Förderung einer offenen und wertschätzenden Kommunikation eine professionelle Zusammenarbeit von Trägern, Leitungen, Erziehern und Eltern notwendig ist. Für die fachliche Unterstützung bei spezifischen Fragen und Aufgabenstellungen, ist deshalb eine professionelle Begleitung sehr zu empfehlen.
Kommen wir auf das Thema Fachkräftemangel zurück. Überall werden Erzieher gesucht, doch viele Stellen bleiben unbesetzt. Bilden die Fachschulen zu wenig Nachwuchs aus – und wenn ja, wo liegen die Gründe? An der Bezahlung alleine kann es nicht liegen.
Wenn Sie so wollen, Ja… Aber : Ja, die Fachschulen bilden zu wenig Nachwuchs aus, was einer der Hauptgründe für den Fachkräftemangel ist. Aber die Fachschulen können auch nur die jungen Leute ausbilden, die sich für eine Erzieherausbildung entscheiden und sich dort anmelden. Für mich liegt das Problem aber nicht allein an der Ausbildungszahl, sondern an mehreren Faktoren. Dazu gehört die lange Ausbildungszeit: Die Fachschul-Ausbildung zur Erzieherin oder zum Erzieher dauert oft vier Jahre, inklusive der schulischen und praktischen Phasen. Viele junge Menschen entscheiden sich daher für andere Berufe, die schneller ins Berufsleben führen. Die unbezahlten Ausbildungsabschnitte in einigen Bundesländern sind oft eine finanzielle Hürde. Die Ausbildung an Fachschulen im ersten Teil der Ausbildung ist unvergütet, was für viele Interessierte nicht attraktiv ist. Und last but not least wird derzeit der Erzieherberuf in vielen Medien oft eher negativ als positiv dargestellt. Während negative Aspekte wie Überlastung und Stress stark betont werden, werden die positiven Seiten – wie die sinnvolle Tätigkeit und der gesellschaftliche Wert – oft weniger hervorgehoben. Eine ausgewogenere Berichterstattung könnte dazu beitragen, ein realistischeres Bild des Berufs zu vermitteln und damit mehr junge Menschen anzusprechen. Neben der Bezahlung sind es also auch strukturelle Probleme, die es jungen Menschen schwer machen, sich für den Erzieherberuf zu entscheiden.
Ist es in diesem Zusammenhang nicht problematisch, wenn im Ausland erworbene Qualifikationen in Deutschland nicht oder gähnend langsam anerkannt werden?
Ja, die langsame Anerkennung im Ausland erworbener Qualifikationen ist in der Tat problematisch und verschärft den Fachkräftemangel in Deutschland. Viele gut qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland könnten die Lücken in den Kitas schließen, aber der bürokratische Prozess der Anerkennung ihrer Abschlüsse ist oft langwierig. Anerkennungsverfahren dauern häufig Monate oder sogar Jahre, was potenzielle Bewerber abschreckt und zu einem unnötigen Verlust an Fachkräften führt. Diese Verzögerungen behindern eine schnelle Integration ins Arbeitsfeld. Und in vielen Ländern weichen die Ausbildungsstandards und pädagogischen Ansätze stark von denen in Deutschland ab, was eine zusätzliche Prüfung und Anpassung notwendig macht. Dies verkompliziert und verlangsamt die Anerkennung, auch wenn die grundlegende pädagogische Qualifikation vorhanden ist. Die Sprache spielt jedoch eine zentrale Rolle, gerade im Erzieherberuf. Kleine Kinder lernen Sprache durch alltägliche Interaktionen, und Erzieherinnen und Erzieher dienen als wichtige Sprachvorbilder. Deshalb ist es entscheidend, dass Fachkräfte über sehr gute Deutschkenntnisse verfügen, um den Kindern eine sprachlich einwandfreie Umgebung bieten zu können.
Mögliche Lösungen wären z.B. eine schnellere Anerkennung gepaart mit Sprachförderung. Ein beschleunigtes Anerkennungsverfahren könnte durch intensive Sprachkurse für Fachkräfte aus dem Ausland ergänzt werden. Diese Kurse könnten parallel zur Arbeit stattfinden, um Sprachkenntnisse schnell auf das notwendige Niveau zu heben. Anstatt lange Anerkennungsverfahren durchzuführen, könnten ausländische Fachkräfte durch praxisbegleitende Fortbildungen gezielt auf die Anforderungen im deutschen Kita-System vorbereitet werden. Dies könnte auch Sprachschulungen umfassen, sodass sie im Arbeitsalltag schnell integriert werden.
Sie sind auch Leiterin des Landesreferates für Kindertageseinrichtungen im VBE Baden-Württemberg. Was wären aus Sicht Ihres Verbands die dringendsten Schritte um die aktuellen Probleme in der frühkindlichen Bildung zu lösen?
Aus Sicht des VBE Baden-Württemberg sind mehrere dringende Schritte notwendig, um die Probleme in der frühkindlichen Bildung zu lösen. So muss die Attraktivität des Erzieherberufs wachsen. Es ist entscheidend, den Beruf durch bessere Bezahlung, attraktivere Arbeitsbedingungen und flexible Arbeitszeitmodelle, wie etwa eine 4-Tage-Woche, deutlich attraktiver zu gestalten. Das würde nicht nur helfen, neue Fachkräfte zu gewinnen, sondern auch bestehendes Personal langfristig zu halten. Der VBE sieht auch den Ausbau von Ausbildungsplätzen, insbesondere in dualen Modellen als unerlässlich. Eine praxisnähere Ausbildung mit angemessener Vergütung würde mehr junge Menschen für den Beruf interessieren und gleichzeitig den Personalmangel mindern.
Es muss eine Entlastung der pädagogischen Fachkräfte von bürokratischen Aufgaben erfolgen. Zusätzliche Unterstützungskräfte in der Verwaltung und im hauswirtschaftlichen Bereich könnten Tätigkeiten übernehmen, damit sich Erzieherinnen und Erzieher auf ihre Kernaufgabe, die Arbeit mit den Kindern, konzentrieren können. Leitungen müssen in die Lage versetzt werde, wieder verstärkt inhaltlich und konzeptionell arbeiten zu können und sich nicht um den Einzug der Elternbeiträge kümmern zu müssen.
Fort- und Weiterbildungsprogramme müssen ausgebaut werden, um die pädagogische Qualität zu sichern und Fachkräften neue Perspektiven im Berufsfeld zu bieten. Gleichzeitig sollten Quereinsteiger stärker unterstützt und qualifiziert werden.
Die Verfahren zur Anerkennung im Ausland erworbener Qualifikationen müssen dringend beschleunigt werden. Ergänzende Sprachkurse und Anpassungsqualifikationen könnten dabei helfen, Fachkräfte aus dem Ausland schneller in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Ein langfristiger und nachhaltiger Schritt wäre die Verbesserung des Personalschlüssels in den Kitas. Dies würde nicht nur die Arbeitsbedingungen für die Erzieherinnen und Erzieher verbessern, sondern auch die Betreuungsqualität für die Kinder deutlich erhöhen.
Durch diese Maßnahmen könnte der Erzieherberuf attraktiver gemacht, das Personal entlastet und die frühkindliche Bildung gestärkt werden.
Vielen Dank, Frau Sargk, für das interessante Gespräch!
(hhr)
- Das Interview wurde in stark gekürzter Form am 28. September 2024 bei „Jobs im Südwesten“ in der Wochenend-Ausgabe (Print-Ausgabe) des Südkurier veröffentlicht. ↩︎